Archiv für Dezember, 2013

Lange Schatten

Veröffentlicht: Dezember 20, 2013 von weizzenbrot in Eigene Texte

Das Ich räumt auf. Gut, man muss sich trennen – aber warum trauern? Es muss weg, sagt es sich und leert mit einer großen Geste den Tisch. Alles, was hier stand, hatte einmal seinen rechtmäßigen Platz. Es wurde geliebt und es liebte. Aber Liebe vergeht und Recht kann gebrochen werden. Warum etwas festhalten, das man besser werfen sollte?  – Euphorie des Schluss-Machens und des Anfangens, Euphorie des Sich-Behauptens –

Doch aus der Masse des Verworfenen meldet sich eine mahnende Stimme: „Gut – aber manches muss gesagt, getan oder gedacht werden. Sonst wachsen in der Dunkelheit Kreaturen, die eines Tages furchtbare Rache nehmen.“

Dem Ich kommen diese Worte seltsam vor. Da möchte sich wohl etwas nicht einfach so verabschieden lassen. Und mit bedeutungslosem Raunen versucht es sich zu retten. Wörter, die eine große Weisheit vortäuschen. Schaut man jedoch genauer hin, so bleibt nichts. Unkenrufe aus dem Sumpfland – eine Kröte, deren Weisheiten stinken und die das Neue nicht wahrhaben möchte. Also weg damit!

Das Ich wiederholt die Geste des großen Abräumens. Es ist eine königliche Geste, niemand ist ihr gewachsen. Im Gegenteil, sie scheint einen Thron zu begründen, auf dem das Ich gerne Platz nimmt. Ein Thron, der in den Himmel ragt, der nur die Sonne über sich hat.

Doch gerade ein Thron dieser Art wirft Schatten. Und der Schatten lockt Kreaturen an, die nur in seiner Dunkelheit bestehen können. Hässliche, vernarbte Gesichter, die Tags über ihre Messer wetzen, um dem Ich des Nachts das Fleisch vom Körper zu schneiden. Scheue Kreaturen, die zuerst die Haut von den Fingern nagen, um keine Gegenwehr erdulden zu müssen. Faulige Münder, die die langsame Arbeit des Messers nicht abwarten können und daher gierig in das noch blutende Fleisch beißen.

Die mahnende Stimme hatte Recht behalten. Doch genauso das Ich – denn die Stimme sprach mit boshafter Absicht. Sie wollte missverstanden werden. Sie sagte das offensichtlich Wahre aber kleidete es in das Gewand einer Lüge. Die Wahrheit selbst erschien nur als eine weitere List der alten Ordnung, als ein letztes Aufbäumen, dem man mit der großen Geste des Abräumens begegnen muss. Die Stimme äußerte das Wahre und brachte es so zum Verschwinden. Eine letzte Rache.