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Man kennt sie leider nur zu gut: die Gruppe jener Menschen, die sich als „Sportler“ bezeichnen und dabei eine derart vegetative Zufriedenheit ausstrahlen, dass man sie unwillkürlich gießen möchte. Sie wirken grenzdebil und gleichzeitig hochmodern, richtige Trendsetter also. Zwei Typen möchte ich hier vorstellen:

Der erste Typ ist der marktförmige Selbstoptimierer. Sein Motto: Ich bin stark, dynamisch und leistungsfähig – nicht nur im Berufsleben, sondern auch privat – Working time is lifetime – 16 Stunden Arbeit und dann noch 3 Stunden ins Fitness – that’s it! Mein Steuerberater ist mein bester Freund – wir gehen auch zusammen Joggen! Ich bin verlässlich, solide und verantwortungsvoll, mein Marktwert macht nicht nur meinen Arbeitgeber geil. Sportschau und Tatort, Tagesschau auch gerne – schließlich will man ja nicht verdummen. Und Sonntags einen Film mit Vin Diesel oder Veronica Ferres.

Das Grenzdebile ist hier domestiziert und nützlich – „Fabrikware der Natur“ – ausgestattet mit einer Aura der vegetativen Zufriedenheit, der gepflegten Langeweile und des unbewussten Stumpfsinns – mit der Lifestylberatung direkt vom Volkswirt. Sport bedeutet hier nicht viel mehr als intelligentes „Unzufriedenheitsmangement“. So wird verhindert, dass sich unproduktive Gefühle oder Gedanken breit machen. Selbsterkenntnis wäre genauso störend wie die Lücke im Lebenslauf.

Diese Form des Grenzdebilen fordert nicht viel vom Leben und wird auch selten enttäuscht. Es sei denn, die Kontingenzen des Marktes schlagen zu, aber dann „ist es halt so, der Markt wollte es, man kann sein Schicksal nicht zwingen…usw.“. Die progressiven Konservativen, vom System erfunden, um Stabilität zu garantieren.

Der zweite Typus ist dem ersten scheinbar entgegengesetzt. Es sind die „nicht-zu-viel-Menschen“ – die, die ihre Ethik der goldenen Mitte unter dem Kissen versteckt haben, um besser zu schlafen. Sie nehmen sich gerne mal ein paar Minuten, um über das Schwere in der Welt nachzudenken. Dabei machen sie ein Gesicht, als hätten sie es soeben geschluckt – ein unangenehmes Schauspiel. Alles ist verkrampft, gedrückt, peinlich – und eigentlich nur ein Vorspiel, ein Aufwärmen, um endlich über das Alltägliche palavern zu können. Denken, das wissen sie, ist ein Laster, dem man sich nicht hingeben sollte. „Man kann ja alles irgendwie begründen“ lautet ihr Credo. Und wenn man alles irgendwie begründen kann, dann kann man genauso gut nichts begründen. Warum sollte man sich also auf den Weg machen? „Alles vergeblich“ sagen sie sich und schauen mitleidig auf den, der es versucht.

Dementsprechend sind sie kapitalismuskritisch – aber nicht zu sehr – irgendwo muss man ja auf seine Kosten kommen. Sie retten die Welt mit Bio-Obst und Ökostrom – mehr kann man auch nicht verlangen. Sie sind politisch ohne das Politische ernst zu nehmen. Sie urteilen „objektiv“, indem sie alle Subjekte – sich eingeschlossen – aus der Gleichung nehmen. Damit bleibt das Urteil allgemein, unverbindlich und nichtssagend. Ihre Bildung besteht aus intellektuellen Sprachspielen, die sie erstaunlich gut beherrschen – möchte jemand aber ernsthaft spielen, ist es ein Anschlag auf den guten Geschmack.

Es sind die Menschen der kontrollierten Halbheit, der kontrollierten und gut verwalteten Langeweile. Sie haben sogar eine Ahnung davon – aber natürlich auch ein Gegenmittel: den exzessiven Sport. Denn um alles halb zu machen, muss man eines wenigstens ganz machen – das ist ihre Weisheit. Unterm Strich bleibt eine vegetative Zufriedenheit, kaum bedroht durch Momente der Selbsterkenntnis. Ruhig und friedlich grasen sie, wie Kühe auf der Wiese, die sich nur ab und an schütteln, um die Fliegen los zu werden.

Beide Typen liegen im Trend, beide unterscheiden sich, gehören aber doch zusammen. Der erste Typ begegnet einem meist direkt und ungeschönt. Er schämt sich seiner nicht – man erlebt das Grenzdebile hier in seiner vollen Pracht. Eben darum kann man mit ihm frei umgehen, d.h. bei Bedarf vermeiden oder aufsuchen.

Der zweite Typ ist ein wahres Schaf im Wolfspelz: Dem Anschein nach frei, unabhängig und interessant – aus der Nähe betrachtet aber nur ein schmatzendes und blökendes Schaf, gerade gut, um sich etwas Wolle herunter zu schneiden.

Glutamat ist böse!

Veröffentlicht: März 3, 2014 von weizzenbrot in Gesellschaft
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Am 1.3. 2014 gab es in Stuttgart scheinbar nur zwei Möglichkeiten, sich politisch in Stellung zu bringen: Entweder gegen den Bildungsplan – dann befand man sich auf dem Schlossplatz – oder für den Bildungsplan – dann ging man auf den Marktplatz.

Eine dritte Möglichkeit wurde von einer kleinen Gruppe getestet: Gegen die Bildungsplangegner aber trotzdem auf dem Schlossplatz (auf derselben Seite der Absperrung)!

Das Ergebnis ist hier zu sehen:

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Staatsexamen

Intuitiv könnte man meinen, es ginge darum, einen langen Erkenntnisweg abzuschließen. So als würde man sich diesen Weg noch einmal amtlich bescheinigen lassen. Als würde die Gesellschaft nach der Prüfung diesen Weg anerkennen, gebührend würdigen, zertifizieren. Der letzte glorreiche Schritt also.

Doch eigentlich ist es ein Verwaltungsakt, besser gesagt: ein Selbstverwaltungsakt. Zunächst einmal hat es nichts mit dem bisherigen Weg zu tun, außer das dieser die formale Berechtigung darstellt, die Prüfung antreten zu dürfen.

Der Stoff will in der Breite bewältigt werden, nicht in der Tiefe. Hinzu kommt ein Jargon, den es zu beherrschen gillt. Formalitäten und Inhalte erfordern keine besondere Intelligenz, keine Genialität, noch nicht mal ein gesteigertes Interesse. Es geht einzig um die richtige Form der Selbstverwaltung. Das meint die einfachste Frage nach dem „Was“ und „Wann“ und „Wie lang“. Letztlich spielt es auch keine Rolle mehr, ob man sich mit Mathematik, Germanistik, Philosophie oder Biologie beschäftigt. Gefragt ist der Nussknacker, der die richtige Konsistenz herstellt, das meint: klein, umrissen, leicht aufnehmbar.

Nicht zu vergessen der psychologische Selbstverwaltungsakt: Das Staatsexamen kommt wie ein gewaltig aufgeblähtes Über-Ich daher, das unmögliche Forderungen stellt. Das vor allem jeden Bereich des Lebens diesen Forderungen untertan machen möchte. Vergleichbar mit einer Pflanze, die im Bereich der Universität ihre Wurzeln hat, aber krankhaft darüber hinaus wuchert, jeden andern Bereich mit ihren Flechten beklebt, ausfüllt. Eigentlich mehr ein wuchernder Krebs, den man entweder kontrollieren kann – oder eben nicht.

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Man kann Größen und Relationen anschaulicher machen, wenn man sie in Verhältnis zu etwas setzt, das man kennt, das einem aus der eigenen Lebenswelt anschaulich gegeben ist.

Dies habe ich mal mit der „Zeit“ probiert, d.h dem Alter der Erde, dem Alter des Lebens auf der Erde, dem Auftauchen der ersten Menschen.
Daten hierzu bekommt man aus wikipedia, die Daten verarbeiten kann man in diesem Fall mit dem Dreisatz. Man muß danach nur in die entsprechenden Maßeinheiten umrechnen.

Wenn die Erde 100 km „alt“ wäre und wir auf der Straße der Zeit loslaufen würden, träfen wir nach ca. 20 Kilometern die Anfänge des Lebens.
Die nächsten 78,5 km könnten wir zuschauen, wie es sich entwickelt und immer komplexer wird, bis wir dann ca 1,5 km vor unserem Ziel (nämlich der Gegenwart) Zeugen eines furchtbaren Schauspiels werden würden:
Der Begebenheit, die die Dinos zum Aussterben brachte (außer die Vögel, die ihre direkten Nachfahren sind).
Nun empfiehlt es sich eine Lupe aus dem Rucksack zu holen und auf dem Asphalt nach Spuren der Überlebenden zu suchen.

(Wir sind schon so gut wie am Ziel)

Siehe da!

10 Meter vor dem Ziel taucht der Mensch auf, der ca. 1,3 cm vor der Ziellinie seine Hochkulturen entwickelt, 6 mm davor die Industrialisierung einleitet und seit „ganz kurz“ eine optimistische Lebenserwartung von ca. 2 mm hat.

Geschafft! Wir sind am Ziel und lesen diese Zeilen hier.

Es ist schon bemerkenswert, wie es der Mensch in ca. 6 mm geschafft hat, der Erde seinen tödlichen Stempel aufzudrücken, den man in wissenschaftlichen Fachkreisen mittlerweile das „Anthropozän“ nennt.
Mit diesem verbunden ist ein Artensterben, das es zwar auf unserem Weg auf der Straße der Zeit immer wieder gegeben hat, aber niemals ausgelöst durch eine einzige biologische Art.

Wie wird dieser Weg wohl weitergehen?
Wir werden sehen oder auch nicht.
Zuvor ziehe ich aber trotz allem meine Wanderstiefel aus
und genehmige mir eine Limo aus der Küche.

Es weihnachtet wieder und die Menschen stürmen wie die Schafe in die Gatter des Konsums. Drängen sich dicht, um an das zu kommen, was ihnen als solches einsuggeriert erstrebenswert erscheint.

Die Suche nach dem ominösen Wert, auf die wir uns nicht mittels eigener Kraft und eigenem Mut zum Risiko begeben, sondern es ängstlich und orientierungslos anderen überlassen, nämlich Profis, Experten genannt Werbefachleute, die uns erst zeigen müssen, was uns fehlt (denn wir sind im Grunde unseres Herzens alle Mangelware oder -wesen, und immer schon gewesen, auch das wird uns suggeriert und der heilige Bimbam wird geläutet).

Und dann erscheinen sie uns als Retter in der Not und zeigen uns schließlich, was wir brauchen um diesen Mangel zu kompensieren.

Alles relativ altbekannt und hart für die Zähnchen wie ein alter Keks.

Kaschiert wird dieser Akt mit einem Fest des Schenkens und der Nächstenliebe. Aber eigentlich wollte ich mich gar nicht aufregen. Warum auch?

Vor ca. 2012 Jahren wurde ein Mensch geboren, der später von seinen Zeitgenossen als so unglaublich empfunden wurde, dass sie ihn andauernd mit ihrem Gott in Verbindung bringen mussten. Er war scheinbar einer von denen, die eine radikale These vertraten. Dieser vertrat eine für unsere Verhältnisse heute sehr extreme Form der sog. „Nächstenliebe“.

Was auch immer das sein soll.

Gut, ich kannte diesen Jesus nicht persönlich und die Schreiber des Neuen Testamentes auch nicht wirklich, eher vom Hörensagen. Doch dies ändert offensichtlich an der Kraft seiner Geschichten nicht viel.

Oft habe ich den Eindruck, dass Jesu Leben ein sehr großes Fragezeichen bei seinen Zeitgenossen hinterlassen hat und dieser unbefriedigende Eindruck es war, der letztendlich die Wellen erzeugte, auf denen seine Geschichten (mehr oder weniger ausgeschmückt) über die Jahrtausende hinweg in unsere Zeit geschwemmt wurden.

Denn, Hey ho, Jesus persönlich hat nichts im materiellen Sinne Bleibendes hinterlassen, nichts Schriftliches, auch keine selbst gemalten Bilder, nicht mal Nachkommen (wobei, da bin ich mir nicht sicher, eigentlich bin ich mir bei diesem ganzen Artikel überhaupt gar nicht sicher, aber nun ist es halt schon passiert).

Eines aber ahne ich. Seine zentrale Botschaft scheint so weit entfernt von unserem wirtschaftsorientiertem Weihnachtsfest zu sein, wie wir von der nächsten Galaxie.

Wir fassen einen Begriff mit unserem Ratio-Netz ein (zum Beispiel die „Nächstenliebe“).

Freuen uns dann dermaßen darüber, dass die Imaginationskraft überfließt und schwenken dann in der festen Überzeugung eine Erkenntnis in der Hand zu haben diesen Begriff mit unseren im Wind vorhandenen oder nicht vorhandenen wehenden Haaren hin und her, ohne zu merken, dass wir zwar einen Begriff, diesen aber nicht wirklich begriffen haben.

Ungefähr so wie ein Kindergartenkind, das durch Gruppenzwang genötigt ein Luxusklassenschlitten aus Knete zu formen, in seiner Verzweiflung ein Gebilde formt, das eher aussieht wie eine elvismäßig gutaussehende Schildkröte und diese dann auf den Tisch knallt, in der vehementen Behauptung (und auch mit Schweiß begleiteter Überzeugung) eine glasklare Entsprechung mit einem Oberklassenfahrzeugsdings erreicht zu haben.

Na ja, ich behaupte jetzt mal (und bin auch schweißmäßig davon überzeugt), dass dies ein treffendes Beispiel war.

Wie dem auch sei und um wieder zum Pamphlet zurückzukehren, scheint der Wahnsinn in die Umsetzung dieser in dunkler Vorzeit liegenden urmenschlichen aber vielleicht auch ureigenst-menschlichen Botschaft Einzug gehalten zu haben.

Dafür möchte ich jetzt mal nicht nur die Amerikaner verantwortlich machen. Die sind ja auch nur Menschen.

Auch nicht unser System (das habe ich auch noch nie persönlich kennengelernt).

Trotzdem frage ich mich, warum mir dieses alljährliche konsumorientierte Weihnachtsfest so zuwider ist.

Es ist nicht von ungefähr die ertragreichste Zeit des Jahres für den Handel, die dementsprechend von der Werbung (die kenne ich persönlich leider auch noch nicht, nur von Hörensagen) zusätzlich aufgepuscht wird.

Ich nehme für mich nicht in Anspruch, die Botschaft dieses Jesus zu kennen.

Ich gebe aber zu, dass ich ihn sehr gerne Mal kennengelernt hätte, um mir mein eigenes Bild von ihm zu machen. Leider muss ich mich auf das Bild, das die Augenzeugen den Geschichtsschreibern hinterlassen haben (oder zumindest auf das Bild, das die NT Schreiber aus dem Bild der Augenzeugen gezeichnet haben) verlassen.

Aber ein junger Kerl, der sein Heimatdorf verlässt und in die Wüste geht, um sich selbst zu finden, mutet schon recht seltsam an.

Dann kehrt er mit einem recht beeindruckendem Charisma aus der Wüste zurück, sammelt nicht nur 12  mitten im Leben stehende Männer, sondern auch bald eine ganze Ansammlung von Pennern, Kranken, Asozialen, Nutten und wasweißichalles um sich, um ihnen auf einem Berg eine Agenda mitzugeben und schließlich aufs Ganze zu gehen.

Kamikazeflug auf den Flugzeugträger des damaligen Systems. Der Samen eines neuen Sinns im fruchtbaren Boden des Straßenrandes gesät.

Ich behaupte, dass Jesus wusste, dass er mit dem Besuch der Hauptstadt sein Leben aufs Spiel setzen würde (der nahe Osten war schon damals sehr umkämpft).

Integer schien er gewesen zu sein. Unterschrieb seine Botschaft des bedingungslosen Grundeinkommens… halt falsch! … ich meine natürlich der bedingungslosen Nächstenliebe mit seinem eigenen Blut und das recht leserlich.

Was sagt mir das persönlich?

Eines, was ich daraus lernen kann, was mir annähernd erstrebenswert erscheint, ist diese Botschaft einer Liebe, die uns selbst übersteigt, indem es uns in der Sorge um andere selbst verzehrt.

Klingt schlimm, ist es aber nicht, denn schlimmer scheint es zu sein, an sich selbst gefesselt zu sein (Kostprobe gefällig? Langeweile!).

Sich selbst einen Augenblick lang vergessen in der Fürsorge um den Anderen. Ein Stück Sterben für den Anderen. War nicht das die Botschaft? Vielleicht, vielleicht nicht, vielleicht war auch alles nur ein Missverständnis.

Vielleicht bin ich auch nur ein Keks, der sich nach Milch sehnt.

Wer weiß das schon, aber heiliger Bimbam, ist Wissen wirklich der Sinn von alledem?

Eines befürchte ich aber zu ahnen:

Würde ich nach 40 Tagen nur mit dem Proviant des „Gottvertrauens“ aus der Wüste kriechen, zurück in unsere Weihnachtszeit, würde ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach erst einmal übergeben…

Fröhliche Weihnachten!

English: David Graeber on a boat at Fire Island.

English: David Graeber on a boat at Fire Island. (Photo credit: Wikipedia)

So beschreibt David Graeber in seinem Werk „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ dieses große ominöse Fragezeichen (vor dem noch größeren Ausrufezeichen), das die weltweite Finanzkrise in uns hervorgerufen hat. Es ist vielleicht auch eine Frage nach dem System und der Rolle des Individuums darin als eines Subjektes in seiner ursprünglichen etymologischen Bedeutung, nämlich der eines „Unterworfenen“.

Worin besteht die Korrelation zwischen System und Individuum?
Klar ist, dass die beschränkten, wenn auch funktionalen Sichtweisen des „homo sociologicus“ (oder des soziologischen Menschen), des „homo oeconomicus“ (oder des Nutzenmaximierers) oder einer Mischung beider (dem homo socio-oeconomicus) nur Teilaspekte bei der Grundfrage, was der Mensch ist, sein können. Graebers „Anfang von etwas, das noch nicht bestimmt werden kann“ meint vordergründig die Problematiken eines bestimmten Systems, tiefergehend aber die Frage nach dem Menschen selbst.
Die alte Frage eben.
Was ist der Mensch?
Der Mensch ist ein Wesen, das sich durch „Subjektivität“ auszeichnet. Nun birgt dieser Begriff selbst ein großes Fragezeichen in sich.
Denn was ist Subjektivität?
Subjektivität wird als Inbegriff dessen gebraucht, was zu einem Subjekt als beharrender Substanz gehört.
Man könnte sagen seine psychophysische Landschaft, die das Empfinden, Denken und Urteilen bestimmt und daher die volle Abhängigkeit vom Subjekt bedeutet. Somit ist die egozentrische Sicht die gezwungenermaßen erste Sicht.
Dem gegenüberstehend ist das Objekt als reales (Gegenstand) und ideales (Erkenntnis). Der Begriff „objektiv“ beschreibt daher gewissermaßen ein Versuch der Überwindung des Subjektiven, indem es vom Subjekt absieht, aber als ein solcher Versuch immer ein Ideal bleibt.
Der Umstand, dass wir vom „Subjektiven“ sprechen können, weist schon auf etwas „Objektives“ hin.
English: Georg Simmel

English: Georg Simmel (Photo credit: Wikipedia)

Georg Simmel hat es in seinem Werk „Philosophie des Geldes“ interessant formuliert. Er spricht darin von „Wirklichkeit und Wert als gegeneinander selbständige Kategorien, durch die unsere Vorstellungsinhalte zu Weltbildern werden.“ (Simmel 1900).

Das Ideal der Objektivität, wie sie die naturwissenschaftliche Sichtweise praktiziert, wird relativiert durch den „Wert“ oder genauer Wertung als einer neuen Kategorie, die als Vorgang vom Subjektiven nicht vollständig zu trennen ist. Durch die Wertung erschaffen wir eine Welt der Werte, die die Inhalte der Wirklichkeit in eine neue autonome Ordnung fasst und somit Form und Kategorie des Weltbildes wird. Das Phänomen der Wertung selbst ist hierbei eine Übersetzung der Zustände des Begehrens und des Genießens im Hinblick auf den Widerstand, die insgesamt selbst wieder objektiven Charakter bekommen kann. Simmel gibt die Richtung der Wertbildung vor, wie sie in der Wirtschaft stattfindet.

„Wie man von dem göttlichen Prinzip gesagt hat, dass es, nachdem es die Elemente der Welt mit ihren Kräften versehen habe, zurückgetreten sei und sie dem gegenseitigen Spiele dieser Kräfte überlassen habe, so dass wir nun von einer objektiven, ihren eigenen Relationen und Gesetzen folgenden Welt sprechen können; wie aber die göttliche Macht dieses Aus-sich-heraussetzen des Weltprozesses als das geeignetste Mittel erwählt hat, ihre Zwecke mit der Welt am vollständigsten zu erreichen: so bekleiden wir innerhalb der Wirtschaft die Dinge mit einem Wertquantum wie mit einer eigenen (< 29) Qualität ihrer und überlassen sie dann den Austauschbewegungen, einem durch jene Quanten objektiv bestimmten Mechanismus, einer Gegenseitigkeit unpersönlicher Wertwirkungen – aus der sie vermehrt und intensiver genießbar in ihren Endzweck, der ihr Ausgangspunkt war: das Fühlen der Subjekte, zurückkehren.“ 

David Graeber setzt nun an den moralischen Fundamenten der ökonomischen Verhältnisse an. Bei ihm beginnt der Handel mit einem „Versprechen“ oder einem Kredit. Daraus entwickelte sich die „Ehre und Entehrung“ als Basis der aktuellen zivilisatorischen Zustände und der Wirtschaft.
Geld, das ursprünglich als Medium der Beziehung zwischen Dingen und Wert benutzt worden ist, wurde selbst zum idealisiert-objektiven Gegenstand mit dem Resultat, dass es soziale Beziehungen zu überlagern begann.
Eine zentrale Frage Graebers ist hierbei, warum die Moral der Schulden stärker ist als jede andere Art der Moral und untolerierbares Leid akzeptabel erscheinen lässt.

Graeber geht mit der anthropologischen Brille an das Problem heran. Er unterteilt hierzu die Entwicklung des monetären Systems in fünf Zeitalter.

Von 3000 v. Chr. bis 600 n. Chr. spielte sich das Zeitalter der frühen städtischen Zivilisationen ab, in dem Geld in erster Linie als Verrechnungseinheiten für den auf Kreditabsprachen beruhenden Handel verwendet wurde. Edelmetalle und Waren wurden hierbei oft innerhalb oder in der Nähe von Tempeln gehortet. Verschuldungen führten immer wieder zu sozialen Unruhen und zu Schuldenschnitten.

800 v. Chr. bis 600 n. Chr. fand das Zeitalter der Achse oder „Achsenzeit“ statt.
Diese Zeit war geprägt durch einen geistigen Wandel.
Man begann vermehrt Münzgeld herzustellen um Kriege damit finanzieren zu können, denn die großen Söldnerheere wollten bezahlt werden. An das Edelmetall gelangte man durch Plünderungen in Eroberungskriegen und Ausbeutung von Minen durch Sklaven. Schuldenerlasse wurden abgeschafft und die Verarmung freier Bürger in Kauf genommen. Sozialen Unruhen begegnete man mit der Aussiedlung von Aufmüpfigen in zuvor eroberte Gebiete oder durch staatlichen Maßnahmen wie „Brot und Spiele“. Materialistische Ideologien verbreiteten sich und philosophische und religiöse Schulen mit konträren Anschauungen traten diesen entgegen und setzten sich letztendlich durch, nachdem die Grundlage der Eroberungsökonomie durch die Verfestigung von Großreichen weggebrochen war.

Das Mittelalter dauerte von 600 bis 1450 und von
1450 bis 1971 das Zeitalter der kapitalistischen Imperien.

Seit der Aufhebung des Goldstandards des US-Dollars am 15. August 1971 bis heute, bewegen wir uns im „Anfang von etwas, das noch nicht bestimmt werden kann.“ (Graeber 2012).

Ich bin gespannt, wie lange dieses „noch nicht“ noch dauern wird.
Mag man Simmel glauben, wird der Widerstand einer Sache zu ihrer neuen Wertdefinition beitragen.
So oder so. Es lebe die Krise.

Literatur:
Graeber, D.: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. 1. Aufl., Stuttgart 2012
Simmel, G.: Philosophie des Geldes. 1. Aufl., Berlin 1900