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Nietzsches Dialektik

Veröffentlicht: März 25, 2014 von kynischetonne in Gelesen&zitiert
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Die Vier Apostel, rechter Teil, Szene: Die Heiligen Markus und Paulus. Albrecht Dürer. Public Domain.

Die Vier Apostel, rechter Teil, Szene: Die Heiligen Markus und Paulus. Albrecht Dürer. Public Domain.

Bei Nietzsche hat man den großen Gegensatz zwischen Christus und Paulus: Christus, der sanftmütigste, der liebevollste aller Dekadents, eine Art Buddha, der uns von der Priesterherrschaft und von jeder Vorstellung von Verfehlung, Strafe, Sühne, Urteil, Tod und dem, was dem Tod folgt, befreit hat – jener Mensch wurde durch den schwarzen Paulus verdoppelt, der Christus am Kreuz hängen ließ, ihn immer wieder dahin zurückführte, ihn auferstehen ließ, den Schwerpunkt auf das ewige Leben verlagerte und einen neuen Priestertypus erfand, der noch viel schrecklicher war als die vorhergehenden […].

Gilles Deleuze/Félix Guattari, Kleine Schriften

English: David Graeber on a boat at Fire Island.

English: David Graeber on a boat at Fire Island. (Photo credit: Wikipedia)

So beschreibt David Graeber in seinem Werk „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ dieses große ominöse Fragezeichen (vor dem noch größeren Ausrufezeichen), das die weltweite Finanzkrise in uns hervorgerufen hat. Es ist vielleicht auch eine Frage nach dem System und der Rolle des Individuums darin als eines Subjektes in seiner ursprünglichen etymologischen Bedeutung, nämlich der eines „Unterworfenen“.

Worin besteht die Korrelation zwischen System und Individuum?
Klar ist, dass die beschränkten, wenn auch funktionalen Sichtweisen des „homo sociologicus“ (oder des soziologischen Menschen), des „homo oeconomicus“ (oder des Nutzenmaximierers) oder einer Mischung beider (dem homo socio-oeconomicus) nur Teilaspekte bei der Grundfrage, was der Mensch ist, sein können. Graebers „Anfang von etwas, das noch nicht bestimmt werden kann“ meint vordergründig die Problematiken eines bestimmten Systems, tiefergehend aber die Frage nach dem Menschen selbst.
Die alte Frage eben.
Was ist der Mensch?
Der Mensch ist ein Wesen, das sich durch „Subjektivität“ auszeichnet. Nun birgt dieser Begriff selbst ein großes Fragezeichen in sich.
Denn was ist Subjektivität?
Subjektivität wird als Inbegriff dessen gebraucht, was zu einem Subjekt als beharrender Substanz gehört.
Man könnte sagen seine psychophysische Landschaft, die das Empfinden, Denken und Urteilen bestimmt und daher die volle Abhängigkeit vom Subjekt bedeutet. Somit ist die egozentrische Sicht die gezwungenermaßen erste Sicht.
Dem gegenüberstehend ist das Objekt als reales (Gegenstand) und ideales (Erkenntnis). Der Begriff „objektiv“ beschreibt daher gewissermaßen ein Versuch der Überwindung des Subjektiven, indem es vom Subjekt absieht, aber als ein solcher Versuch immer ein Ideal bleibt.
Der Umstand, dass wir vom „Subjektiven“ sprechen können, weist schon auf etwas „Objektives“ hin.
English: Georg Simmel

English: Georg Simmel (Photo credit: Wikipedia)

Georg Simmel hat es in seinem Werk „Philosophie des Geldes“ interessant formuliert. Er spricht darin von „Wirklichkeit und Wert als gegeneinander selbständige Kategorien, durch die unsere Vorstellungsinhalte zu Weltbildern werden.“ (Simmel 1900).

Das Ideal der Objektivität, wie sie die naturwissenschaftliche Sichtweise praktiziert, wird relativiert durch den „Wert“ oder genauer Wertung als einer neuen Kategorie, die als Vorgang vom Subjektiven nicht vollständig zu trennen ist. Durch die Wertung erschaffen wir eine Welt der Werte, die die Inhalte der Wirklichkeit in eine neue autonome Ordnung fasst und somit Form und Kategorie des Weltbildes wird. Das Phänomen der Wertung selbst ist hierbei eine Übersetzung der Zustände des Begehrens und des Genießens im Hinblick auf den Widerstand, die insgesamt selbst wieder objektiven Charakter bekommen kann. Simmel gibt die Richtung der Wertbildung vor, wie sie in der Wirtschaft stattfindet.

„Wie man von dem göttlichen Prinzip gesagt hat, dass es, nachdem es die Elemente der Welt mit ihren Kräften versehen habe, zurückgetreten sei und sie dem gegenseitigen Spiele dieser Kräfte überlassen habe, so dass wir nun von einer objektiven, ihren eigenen Relationen und Gesetzen folgenden Welt sprechen können; wie aber die göttliche Macht dieses Aus-sich-heraussetzen des Weltprozesses als das geeignetste Mittel erwählt hat, ihre Zwecke mit der Welt am vollständigsten zu erreichen: so bekleiden wir innerhalb der Wirtschaft die Dinge mit einem Wertquantum wie mit einer eigenen (< 29) Qualität ihrer und überlassen sie dann den Austauschbewegungen, einem durch jene Quanten objektiv bestimmten Mechanismus, einer Gegenseitigkeit unpersönlicher Wertwirkungen – aus der sie vermehrt und intensiver genießbar in ihren Endzweck, der ihr Ausgangspunkt war: das Fühlen der Subjekte, zurückkehren.“ 

David Graeber setzt nun an den moralischen Fundamenten der ökonomischen Verhältnisse an. Bei ihm beginnt der Handel mit einem „Versprechen“ oder einem Kredit. Daraus entwickelte sich die „Ehre und Entehrung“ als Basis der aktuellen zivilisatorischen Zustände und der Wirtschaft.
Geld, das ursprünglich als Medium der Beziehung zwischen Dingen und Wert benutzt worden ist, wurde selbst zum idealisiert-objektiven Gegenstand mit dem Resultat, dass es soziale Beziehungen zu überlagern begann.
Eine zentrale Frage Graebers ist hierbei, warum die Moral der Schulden stärker ist als jede andere Art der Moral und untolerierbares Leid akzeptabel erscheinen lässt.

Graeber geht mit der anthropologischen Brille an das Problem heran. Er unterteilt hierzu die Entwicklung des monetären Systems in fünf Zeitalter.

Von 3000 v. Chr. bis 600 n. Chr. spielte sich das Zeitalter der frühen städtischen Zivilisationen ab, in dem Geld in erster Linie als Verrechnungseinheiten für den auf Kreditabsprachen beruhenden Handel verwendet wurde. Edelmetalle und Waren wurden hierbei oft innerhalb oder in der Nähe von Tempeln gehortet. Verschuldungen führten immer wieder zu sozialen Unruhen und zu Schuldenschnitten.

800 v. Chr. bis 600 n. Chr. fand das Zeitalter der Achse oder „Achsenzeit“ statt.
Diese Zeit war geprägt durch einen geistigen Wandel.
Man begann vermehrt Münzgeld herzustellen um Kriege damit finanzieren zu können, denn die großen Söldnerheere wollten bezahlt werden. An das Edelmetall gelangte man durch Plünderungen in Eroberungskriegen und Ausbeutung von Minen durch Sklaven. Schuldenerlasse wurden abgeschafft und die Verarmung freier Bürger in Kauf genommen. Sozialen Unruhen begegnete man mit der Aussiedlung von Aufmüpfigen in zuvor eroberte Gebiete oder durch staatlichen Maßnahmen wie „Brot und Spiele“. Materialistische Ideologien verbreiteten sich und philosophische und religiöse Schulen mit konträren Anschauungen traten diesen entgegen und setzten sich letztendlich durch, nachdem die Grundlage der Eroberungsökonomie durch die Verfestigung von Großreichen weggebrochen war.

Das Mittelalter dauerte von 600 bis 1450 und von
1450 bis 1971 das Zeitalter der kapitalistischen Imperien.

Seit der Aufhebung des Goldstandards des US-Dollars am 15. August 1971 bis heute, bewegen wir uns im „Anfang von etwas, das noch nicht bestimmt werden kann.“ (Graeber 2012).

Ich bin gespannt, wie lange dieses „noch nicht“ noch dauern wird.
Mag man Simmel glauben, wird der Widerstand einer Sache zu ihrer neuen Wertdefinition beitragen.
So oder so. Es lebe die Krise.

Literatur:
Graeber, D.: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. 1. Aufl., Stuttgart 2012
Simmel, G.: Philosophie des Geldes. 1. Aufl., Berlin 1900